Eines hat die Corona-Krise eindrucksvoll gezeigt: Solidarität ist möglich! Tausende Menschen und Initiativen haben das in den vergangenen Monaten bewiesen. Der Verein Video Aktive hat gemeinsam mit der TU Braunschweig unter kulturgemeinsam38.de einen Livestream für Kulturgut geschaffen und erhoffen sich Spenden der Zuschauer (WAZ-Online-Bericht auf Youtube). In der Initiative „Kochen für Helden“ kochen Restaurants für systemrelevante Berufe und sammeln Spenden (NDR-Bericht). Die lokalen Hilfsangebote sind inzwischen Legion (hier ein Überblick für München).
Freilich: Es gab auch andere Erfahrungen. Die leergehamsterten Toilettenpapier- und Heferegale haben auch gezeigt, dass es dem ein oder anderen völlig egal ist, was für die anderen übrigbleibt, so lange er oder sie genug hat. Dennoch ist eine der Grunderfahrungen der Krise: Menschen sind zu solidarischem Handeln bereit. Es geht nicht nur um die Maximierung des eigenen Vorteils, wie das jahrelang in der öffentlichen Debatte vorherrschende neoliberale Menschenbild des homo oeconomicus unterstellt hat. Menschen sind soziale Wesen, das Schicksal der Anderen in der Gesellschaft ist ihnen nicht egal. Das Narrativ der Gemeinschaft – das Jochen Ott in diesem Blogg eindrucksvoll beschrieben hat – ist offenbar noch lebendig. Die alte Idee der Solidarität – in der politischen DNA der Sozialdemokratie als Grundwert fest verankert – ist hoch aktuell und lebendig.
Das ist einigermaßen erstaunlich, wenn man die öffentlichen Debatten der jüngeren Vergangenheit revuepassieren lässt. Der Neoliberalismus hat in den vergangenen drei Jahrzehnten das Bild einer Wettbewerbsgesellschaft forciert, in der jeder zu jedem in Konkurrenz steht. Wettbewerb und Konkurrenz galten als die eisernen Organisationsprinzipen der Gesellschaft, nicht Kooperation und Miteinander.
Der Rechtspopulismus lebt sogar davon, dass er verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander in Stellung bringt. Die „da unten“ gegen“ „die Elite“, „die Flüchtlinge“ gegen „die Deutschen“, das „Volk“ gegen „die Politik“ usw. Das Geschäftsmodell des Rechtspopulisten beruht einzig und allein auf der Behauptung von Gegensätzen und ihrer Zuspitzung bis hin zur physischen Gewalt.
Auch aus Perspektive einer übersteigerten Identitätspolitik steht ein gemeinsames Miteinander unter Druck. Der britische Philosoph Richard Rorty hat schon in den 1990ern darauf hingewiesen, dass z.B. der Stolz darauf, schwarz zu sein, völlig legitim und nachvollziehbar sei nach Jahrhunderten der Erniedrigung und Unterdrückung. Und natürlich gilt es, diese Art von Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeiten zu überwinden. Er sagt aber auch, dass dieser Stolz nicht die gemeinsame soziale Reformpolitik mit Weißen verhindern dürfe. Die Überbetonung von kulturellen Identitäten könne andere, gemeinsame Interessen überlagern und so zu mehr Spaltung statt zu mehr Miteinander führen.
Wie könnte demgegenüber die sozialdemokratische Utopie eines solidarischen Miteinanders aussehen? Sie geht erstens davon aus, dass wir Menschen miteinander existenziell verbunden sind. In unseren Beziehungen, in Dörfern und Städten bis hin zu einer weltweiten Verbundenheit. Ohne miteinander zu kooperieren ist das Überleben der Menschheit in Zeiten von Pandemien, Klimawandel und zunehmender internationaler Gewalt existenziell gefährdet. Die Utopie eines solidarischen Miteinanders geht zweitens davon aus, dass sich nur durch gemeinsame Anstrengungen die Chancen für ein selbstbestimmtes Leben aller vergrößern lassen. Ob jemand in Freiheit leben kann und wann die Freiheit des Einen Grenzen finden muss, um nicht die Freiheit des Anderen einzuschränken, das entscheidet sich im demokratischen Miteinander. Drittens leugnet ein solidarisches Miteinander nicht gesellschaftliche Gegensätze und Interessensunterschiede. Diese wird es immer geben. Aber es bildet einen Rahmen, um unterschiedliche Interessen zugewandt zu verhandeln und gemeinsam Lösungen zu finden. Ein solidarisches Miteinander bedeutet also nicht Gleichförmigkeit, sondern die Anerkennung von Unterschieden und die Freiheit, diese Unterschiede leben zu können.
Ein Papier der Grundwertekommission hat im letzten Jahr den Grundwert der Solidarität neu vermessen und damit die Wertegrundlage für das hier skizzierte Miteinander beschrieben. Dort heißt es: „Diese Solidarität gewinnt ihre Gewissheit und ihre Sicherheit in der Liebe und in der Freundschaft. Sie entspringt dem gemeinsamen Leben mit den Nächsten und den Freunden; im globalen Dorf der Weltgemeinschaft schließt sie aber die vermeintlich Fernsten nicht aus. Sie steht der Verbundenheit mit der eigenen Herkunft, einer wohl begründeten politischen Ordnung, einer gelebten Kultur oder einer die Freiheit ermöglichenden Religion nicht entgegen. …. Wer … will, dass es den Menschen und die Menschheit weiterhin gibt, der kommt nicht umhin, mit ihnen und mit ihr über alle Grenzen hinweg solidarisch zu sein.“
Ist die Vorstellung eines solidarischen Miteinanders nicht nur eine naive Träumerei? Und kann Politik die Art und Weise unseres Zusammenlebens überhaupt beeinflussen? Ich glaube: Ja, ein solidarisches Miteinander kann zu einem politischen Projekt werden. Das Handeln der Menschen in der Krise hat gezeigt, dass ein erhebliches Solidaritätspotential vorhanden ist. Und es wurde auch deutlich, dass Solidarität nötig ist. Allein und auf sich gestellt ist der/die Einzelne den Wechselfällen des Lebens nicht immer gewachsen.
Politisches Handeln prägt die Bedingungen für mehr oder weniger Solidaritätsspielräume in unserer Gesellschaft. Sebastian Hartmann hat in diesem Blogg zu Recht auf eine Wohnungsbaupolitik verwiesen, die Abschottung vermeidet und Begegnung ermöglicht. Solidarität drückt sich aus in einer Bildungspolitik, die die Wettbewerbslogik aus der Schule hält und gemeinsames Lernen fördert. Oder in einer Politik öffentlicher Güter, die die Privatisierung öffentlicher Räume umkehrt und ein Zusammenkommen an Orten ermöglicht, die vor der Marktlogik geschützt sind.
Eine Politik des solidarischen Miteinanders erfordert Mut. Denn sie bricht mit den vorherrschenden Erzählungen des Wettbewerbsgesellschaft. Aber zugleich sind die Chancen für ein solidarisches Projekt gerade besser, als sie es lange Zeit waren. Die Krise hat gezeigt, dass Solidarität nicht nur umkämpft, sondern auch möglich und nötig ist.
Zum Autor | Prof. Dr. Christian Krell (1977) lehrt Staatsrecht und Politik an der Hochschule des Bundes und ist Honorarprofessor an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Wilhelms-Universität Bonn. Er ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Dieser Beitrag wurde nicht in dienstlicher Funktion verfasst.