Staatstragend. Das ist oft ein Attribut, welches man über die SPD hört. Sie dient dem Land. Erst das Land, dann die Partei. Man hörte es oft, um die Partei wieder und wieder in die Große Koalition zu führen. Obwohl die Partei es nicht wollte und sie in den letzten Jahren damit stets einen unglücklichen Eindruck mit sich selbst machte.
Die Lust auf das Regieren hat die SPD nie ausgezeichnet. Verantwortung. Macht. Bittere Pillen schlucken. Das schmerzt diese Partei immer wieder. Und doch tut sie es sich immer wieder an. Zuweilen wirkt sie nur noch als ein großer Regierungsapparat, ohne Meinung, ohne Kompass, ohne eigenen Willen. „Postideologie“ nannte man das unter dem „Dritten Weg“ von Gerhard Schröder. Die SPD solle sich von ideologischem Ballast befreien und eine Macherpartei werden. Die bessere CDU. Und so schleppte diese SPD-Technokratie sich durch fast alle Regierungen der letzten 20 Jahre. Die Botschaften gingen ihr aber aus. Und auch die politische Energie.
Diese politische Energie suchte man zuletzt dadurch wieder zu gewinnen, dass man sich als „Haltungslinke“ inszenierte, die für die besseren Werte steht, die progressiv voran geht und die die Gesellschaft freier gestalten wolle. Fortschritt im Denken, das war der Ansatz – ohne dass Sozialdemokraten lange und viel darüber nachdachten, was sie da eigentlich predigten und was ihr Denken da nun ist.
Dieser Haltungslinken gingen dabei viele Wähler verloren. Dieser Haltungslinken ging auch der nüchterne Blick auf die Realität sowie das Mundwerk verloren, welches die „Tacheles“-Kanzler wie Helmut Schmidt noch auszeichnete. Sozialdemokraten waren seit Ferdinand Lassalle Menschen, die sagten, was ist. Wirklichkeitsbezug war ihre Auszeichnung. Gerade dieser war ihr Asset gegenüber der konservativen Bismarck-Elite, die stets so tat, als sei in Deutschland alles gut verwaltet. Sozialdemokraten bohrten da stets nach und legten offen, wie es denn wirklich aussieht. Und sie arbeiteten hart, um Ideen zu entwickeln, wie es für alle voran gehen könne.
Sozialdemokraten gaben sich nie zufrieden. Sie wollten immer mehr. Aber vor allem im materialistischen Sinne mehr: Mehr Wohlstand, mehr soziale Sicherheit, bessere Arbeit, bessere Bildung. Doch zuletzt waren Sozialdemokraten viel zu zufrieden. Sie mussten ja auch stets ihre Erfolge in der Regierung rechtfertigen. Natürlich konnten viele da nicht einfach sagen: Eigentlich haben wir viele Probleme im Land.
Nur in einem gesellschaftspolitisch liberalen Denken wollten Sozialdemokraten noch vorankommen – so schien es. Ansonsten signalisierten sie: Es läuft doch ganz gut hier in Deutschland. Diese Botschaft nahmen ihnen erst Geringverdiener übel, dann die untere Mitte und dann verabschiedeten sich noch Teile der oberen Mittelschicht, die sich von dieser Erzählung vom Fortschritt in der Haltung angesprochen fühlte, zu den Grünen, die diese Erzählung einfach schöner erzählen. Kulturell und ökonomisch verlor man also den Kompass. Wohl kaum eine Partei hat so eine große Diskrepanz zwischen ihrer Funktionärsschicht und deren Projekten, Vorstellungen und Ideen und den Interessen und Wünschen ihrer – ehemaligen – Wählerschaft. Zwar ist durch die Individualisierung und die Verschiebung der Lebenswelten zwischen den Gesellschaftsteilen es nicht einfacher geworden als Volkspartei noch genügend integrierende Botschaften zu senden, die Menschen unterschiedlicher Lebensrealitäten erreichen. Aber die SPD versuchte lange einseitig diese Klasse zu erreichen, die der Soziologe Andreas Reckwitz die „neue Akademikerklasse“ nennt. Die „alte Mittelklasse“, die zentrale Wählergruppe der SPD, erreicht sie weniger. Die „neue Unterklasse“ erreicht sie ebenfalls kaum bis gar nicht.
Seitdem die SPD ökonomisch einen Linksschwenk vollzog, erreicht sie nun die neue Akademikerklasse kaum mehr und gewinnt in der „neuen Unterklasse“ auch kaum wen zurück. In der alten Mittelklasse gewinnt sie weder kulturell noch sonderlich ökonomisch. Die SPD hängt zwischen allen Stühlen und findet keinen Weg für sich mehr, um zu definieren, wen sie eigentlich repräsentiert und womit. Stattdessen wirken die jungen Politikstudenten und Soziologiestudenten, die in die Partei eintreten, so, als wollten sie eigentlich nur sich selbst repräsentieren und unterstellen dabei, dass doch alle so sind wie sie selbst. Sie betreiben also Identitätspolitik, was oft auch heißt: Politik zu betreiben, die ihnen selbst gefällt.
Das ist aber nicht die Aufgabe von Politik. Die Aufgabe von Politik liegt vielmehr im Lösen von Problemen und dem Sicherstellen von Repräsentation. Repräsentative Demokratie bedeutet nämlich Interessen zu repräsentieren. Aber genau das tut der Funktionärskörper der SPD weniger. Vielmehr hat dort ein Eigenleben eingesetzt. Die Identitätspolitik, hier in der Definition der Selbst-Repräsentation, verhindert auch einen Fokus auf Problemlösen und den Blick auf die eben auch manchmal schmutzige Realität. Stattdessen fokussiert die Identitätspolitik auf Werte und Haltung derjenigen, die sich selbst über diese Haltung ihrer politischen Orientierung und Verortung vergewissern. Identitätspolitik ist wie ein Sprechen in den Spiegel. Man überzeugt vor allem sich selbst damit.
Verantwortungspolitik hingegen bedeutet, zu wissen, dass die Aufgabe von Politik darin liegt, für das Land eine gute ökonomische Entwicklung zu ermöglichen, Probleme zu lösen sowie Repräsentant von Partikularinteressen zu sein. In dem Austausch zwischen Idealen des Gemeinwohls und der Interessendivergenz muss eine Volkspartei arbeiten. Ihre Aufgabe ist die Integration verschiedener Aspekte zu einem Gesamtnarrativ und einer guten Politik für das Land und der eigenen Wähler. Dafür ist ein politischer Gemeinsinn zu finden – und zwar die sozialdemokratische Variante dieses Gemeinsinns. An dieser Aufgabe scheitert die SPD seit Jahren. Das zu ändern, ist die Botschaft meines Buches „Verantwortung“.
Zum Autor | Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat, Autor und Politologe. In seinem Buch „Verantwortung. Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels“, das im März 2020 im Dietz-Verlag erschienen ist, argumentiert er für ein „republikanisches Wir“ und eine „sozialdemokratische Verantwortungslinke“.