Die „Solidarische Mitte“ finde ich gut, seit sie der ehemalige Parteivorsitzende Kurt Beck in der Debatte zum späteren Hamburger Grundsatzprogramm so bezeichnete. Später war dann von „solidarischer Mehrheit“ die Rede. Das war einerseits ein Zugeständnis an Genossinnen und Genossen, die „Mitte“ als einen festen Ort missverstehen und diesen der Union überlassen wollen. Andererseits war „solidarische Mehrheit“ auch ein richtiger Begriff, denn es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass sich mit Solidarität Mehrheiten gewinnen lassen. Dieser Blog zur „solidarischen Mitte“ ist also relevant. Denn „Mitte“ ist kein fester Ort oder eine bestimmte Personengruppe, sondern der Anspruch, ein Politikangebot zu entwerfen, mit dem man Mehrheiten gewinnen kann.
Um diese Mehrheiten zu gewinnen, muss man die Mehrheit allerdings auch ansprechen. Und zwar so, dass sie sich angesprochen fühlt. Das ist schwer und wird mit fortschreitender Individualisierung noch schwerer. Hier habe ich begründet, was das für die SPD als Partei der solidarischen Mitte bedeutet: Sie muss sich „radikal an alle“ wenden. Sie muss also zu dieser solidarischen Mitte einladen, sogar auffordern, sich ihr anzuschließen, weil mehr Solidarität besser ist für alle. Das funktioniert nicht mit einer Politik nach Zielgruppen. Und es funktioniert auch nicht mit all den Begriffen, die dafür schon versucht wurden. Die SPD hat es in den letzten Jahren mit der „neuen“ Mitte, der „linken“ Mitte, der „hart arbeitenden“ Mitte und zuletzt der „tüchtigen“ oder „wirklichen“ Mitte versucht. Alle diese Begriffe geben den Menschen allerdings eher ein Rätsel auf, ob sie gerade gemeint sind oder nicht. Im Zweifel fühlen sie sich nicht angesprochen und werden anschließend darin bestätigt, wenn einzelne Zielgruppen herausgegriffen werden, zu denen sie selbst gerade nicht gehören.
Aktuelles Beispiel: der Pflegebonus. Den haben Pflegekräfte gewiss verdient. Und sie haben mehr als das verdient, nämlich grundsätzlich eine angemessene Entlohnung und gute Arbeitsbedingungen. Und nicht nur Pflegekräfte. Natürlich und zurecht wurde ich in einem Krankenhaus damit konfrontiert, was denn nun mit den anderen Berufsgruppen sei, die alle zum Gesamterfolg bei der Arbeit beitragen. Beispielsweise auch mit den Reinigungskräften, die zuletzt in eine andere Einheit outgesourct wurden, wo sie natürlich schlechter eingruppiert sind und schlechtere Arbeitsbedingungen haben als zuvor. Das vorläufige Ende vom Lied: im Krankenhaus gibt es für niemanden etwas, denn der Pflegebonus gilt sogar nur für die Altenpflege.
Als Kirchenbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion darf ich es vielleicht mit der Bibel versuchen: Dort gibt es das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Der Hirte zieht los, um das verlorene Schaf zu suchen. Es könnte in Gefahr geraten sein und ohne das Schaf ist die Herde nicht vollständig. Also lässt er seine Herde zurück, um sich auf die Suche zu machen. Und tatsächlich findet er das Schaf und als beide zur Herde zurückkommen gibt es ein Fest. Also keine Eifersucht, kein Neid, keiner, der sich zurückgesetzt fühlt, sondern einfach Freude über das wiedergefundene Schaf. Warum funktioniert das in der Bibel? Weil der gute Hirte allen seine Liebe zuspricht, weil damit an alle gedacht ist, weil er für alle tun würde, was er für das eine Schaf getan hat, und alle das auch wissen.
Wenn wir das politisch umsetzen wollen, heißt das eben: “Politik für alle”. Niemanden aufgeben, kein Unrecht dulden, für Gerechtigkeit kämpfen. Eigentlich tun wir das doch? Ja, aber sicher ist das häufig schwer zu verstehen, wenn manches Projekt, wie jetzt endlich eine Grundrente, zehn Jahre und länger dauert, bis es durchgesetzt werden kann. Wenn anderes, wie etwa eine Bürgerversicherung, nur zu Wahlkampfzeiten auftaucht. Oder wenn es heute um die einen und morgen um die anderen geht. Menschen sind grundsätzlich zur Solidarität fähig, aber sie sind bereiter zu Solidarität, wenn sie sie auch spüren. Wir müssen das Vertrauen, dass es uns um alle geht, wieder herstellen. Es ist die Basis für gesellschaftliche Solidarität. Und die ist die Basis für eine solidarische Politik, für die wir werben.
Zum Autor | Prof. Dr. Lars Castellucci ist Professor für Nachhaltiges Management, insbesondere Integrations- und Diversity Management an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim. Seit 2013 gehört er dem Deutschen Bundestag an und ist innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion für Migration und Integration zuständig sowie Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften.
Kontakt: lars.castellucci@nullbundestag.de
Lieber Lars,
sehr gut, was Du da geschrieben hast.
Allerdings denke ich auch, dass es besonders um glaubwürdige Persönlichkeiten geht, die unsere Partei wieder vorwärts bringen können.
Dieser dauernde Wechsel bei den Kadidatinnen und Kandidaten für die hohen Ämter! Dieser unbefriedigende Zusammenhalt innerhalb der Partei.
Du machst es jedenfalls gut.
Vielen Dank dafür.
Wolfgang M.